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Georg Salner «multiple Identitäten»
von Martin Fritz
Das unverzichtbare Potenzial von retrospektiven Einzelausstellungen liegt in der Sichtbarmachung von Verlaufslinien im Werk eines Künstlers. Doch Verlaufslinien treten entlang von Brüchen ebenso auf wie an Verbindungsstellen, weswegen in guten Überblicksausstellungen neben den Hauptwegeführungen auch die Abzweigungen, Verästelungen und Verfeinerungen sichtbar werden sollten, aus denen sich über die Jahre ein Gesamtwerk entwickelt. Neben dem Zeitfaktor bietet sich auch der Umstand, dass zu Georg Salners Arbeitsweise neben der Klausur im Atelier sorgfältig geplante, thematisch orientierte Reisen gehören, als Grund dafür an, die Entwicklung von Georg Salners Bildfindungen im letzten Jahrzehnt als eine Abfolge von Wegstrecken zu beschreiben, die sich zwar alle aufeinander beziehen, den Künstler aber Schritt für Schritt in neues – zu entdeckendes – Terrain führen.
Mit «geoXplicit», einer (vorerst) 144-teiligen, durchgehend querformatigen Serie von Papierarbeiten, die in Form eines markanten Abschnittes eines der zentralen Werke der Ausstellung im Tiroler Landesmuseum darstellt, stellt uns Salner eine Art Reisebericht über seine jüngsten künstlerischen Bewegungen zur Verfügung, dessen Besonderheit darin liegt, nahezu alle vorangegangen Motiventwicklungen zu enthalten. Die Blätter sind in den Jahren seit 2008 entstanden und es verdient festgehalten zu werden, dass die Serie “ohne Ausschuss” (Salner), also ohne aussortierte Exemplare, entstanden ist. Salners Erfahrung macht es ihm möglich, durch die Festlegung von wenigen Rahmenparametern (Format, Technik, Papier) zu einem stabilen «Reiseplan» zu gelangen, in dem es dann keine Irrwege mehr gibt, die verworfen werden müssten, sondern nur mehr ergiebige Ergänzungen und Ausweitungen der zu Beginn der Arbeit konzipierten Route.
Widmen wir uns dem Studium dieser Blätter, deren zeichnerische Anmutung durch die Verwendung des Notizmediums Wasserfarbe verstärkt wird, sehen wir einerseits, wie die Geometrie und das freiwillig reduzierte Formenrepertoire der Moderne, weiterhin den roten Faden für Georg Salners Arbeit bildet, zugleich wird uns aber eine drastische Erweiterung seines Bildrepertoires bewusst, mit der er mitten ins zeitgenössische Leben zielt. Georg Salner spricht selbst in einem eigenen Text von einer «motivischen und inhaltlichen Ausweitung» und von einem «Abenteuer», das unter anderem darin besteht, sich dieser "größeren Diversität" auszusetzen. "geoXplicit" führt die Betrachter in eine Bildwelt, in der zwar die Kanons der abstrakten Moderne weiterhin Geltung beanspruchen, dies jedoch in dissonanter Form, nachdem ihr Geltungsanspruch durch Pop, Alltagskultur und Medien mehr als ins Wanken gebracht wurde.
Trotz seines hohen theoretischen Standards hält Salner jedoch kein kunsthistorisches Seminar. Vielmehr scheint es, als ob ihm die Außenwelt die Bilder aufgedrängt hätte, da er kein Ateliermönch sein will, sondern Wert darauf legt, mit der «allgemeinen Grunderfahrung einer zersplitterten Welt» (Salner), anschlussfähig zu bleiben. In seinen früheren Arbeiten lag diesbezüglich noch vieles unter strengeren Rastern verdeckt, etwa in den web-inspirierten Computerstickereien der Serie «recent past present near future 3-some world», in die zwar auch spezielle Termini der Pornoindustrie eingearbeitet wurden, ohne dass diese jedoch formal greifbar wurden. In "geoXplicit" wird nun auch visuell offensichtlich, dass Salner mitten aus existenziellen Erfahrungen schöpft. Neben den “expliziten” Motiven und den häufigen malerischen Auflösungen geometrischer Grundformen finden sich in der Serie aber auch realistisch ausgeführte Formenzitate, etwa die Möbel von Charles und Ray Eames oder Friedrich Kiesler (und dazu erfundene eigene), und viele zeichnerisch-typografisch gelöste Schriftbilder, die uns mit Alliterationen wie «Bad Bank» oder «Crisis Creates Cure» daran erinnern, dass die Arbeiten zeitgleich zu einer Serie von globalen Finanzkrisen entstanden sind. Im Überblick fügen sich alle Motive zu einem Panoptikum aktuellen Lebens, zwischen den lauten Verheißungen marktkonformer Rethorik und den damit in Verbindung stehenden Bildern, die durch Salners Malweise eine eigenartige Retro-Zeitlosigkeit bekommen, die wahlweise an die klassische Moderne, die (Swinging) Sixties oder die Farbigkeit der 1970er Jahre erinnert, ein Eindruck der primär aus der Beschränkung auf ein bestimmtes Farbsegment entsteht. Nun ist zeitgenössisches Leben aber ein Leben mit medialen Bildern, womit sich der Kreis ein weiters Mal zu jenen, in Innsbruck ebenfalls zu sehenden Bilderserien schließt, in denen Salner daran arbeitete, Sprachphänomene der medialen und digitalen Kommunikation in Malerei zu übersetzen («@brevi@tions», 2001), oder untersuchte, inwieweit mediale Oberflächen zum «Material» für ‘ehrwürdige’ Ölmalerei gemacht werden könnten («typo.log 36 EXP», 2005 bis 2007).
Gesehenes und Erlebtes
Speziell die in «geoXplicit» öfter eingestreuten sexuellen Motive erinnern daran, wie unmöglich die Trennung zwischen persönlicher Erfahrung oder obsessiver Phantasie und medialem Bild geworden ist. Doch gerade aus der scheinbaren Unbewältigbarkeit der Bilderströme und den vielfältigen Beziehungen und Diskrepanzen zwischen Gesehenem und Erlebten erwächst der Kunst am Beginn des 21. Jahrhunderts eine ihrer zentralen Aufgaben. Bilder entstanden immer schon in Reaktion auf vorangegangene Bilder, doch das Echtzeitbildreservoir der Gegenwart macht die aktuelle Kunstentwicklung etwas atemlos, wobei manche Ansätze sich damit begnügen, den Strom als «Found Footage» in die Räume der Kunst umzuleiten, während andere immer noch davon träumen, eine analoge Gegenwelt errichten zu können. Georg Salner hingegen zeigt uns einen anderen Weg, der zur Voraussetzung hat, produktiv und angstfrei mit den Widersprüchlichkeiten des eigenen Lebens und mit den verschiedensten formalen Optionen umgehen zu können. Salners “multiple Identitäten” geben also nicht nur der Innsbrucker Ausstellung ihren Namen, sie sind auch die hilfreichen künstlerischen Mitstreiter, mit deren Hilfe es Salner möglich ist, zwischen den Welten der Sprache, der Objekte und der Bilder simultan zu navigieren, während seine an Projektserien ausgerichtete Arbeitsweise die Möglichkeit dazu schafft, temporär jeweils einer Ausprägung den Vorzug einzuräumen. Das Außergewöhnliche an den neueren Arbeiten ist jedoch, dass Salner nunmehr großzügiger und freier mit seinen Antagonismen umgeht. In früheren Jahren wurden seine Prägungen und Erfahrungen sorgfältig in verschiedene Werkkomplexe getrennt, während die Aquarelle und Gouachen von «geoXplicit» hingegen alle seine Erfahrungswelten verbinden.
Obwohl formal eindeutig technisch widmet sich auch die Spiegeltextinstallation «hidden decision» einer umfassenden, (bewusst verwirrenden) vieldeutigen und vielfältigen menschlich-künstlerischen Sprachwelt (in englisch und deutsch), die von «dissapointed expectation» und «true lie» bis zu “aggressive attack” und “contemporary living” durchdekliniert wird. Wenn der Betrachter am Ende der säulenförmig geschichteten Textspalten auf die Begriffskombination “multiple identity” trifft, kann er an dieser Stelle direkt an Salners Grunderfahrung anschliessen.
Die Öffnung des Salnerschen Fundus steht im Einklang mit der Kunstentwicklung der letzten beiden Jahrzehnte, in der gesellschaftliche Realitäten wieder verstärkt zum Material und Thema aktueller – auch malerischer – Praxis wurden. Wiederholt konnte festgestellt werden, dass sich die Malerei dort blendend von ihrem eigenen Tod erholt hat, wo sie sich entweder mit den neuen medialen oder den aktuellen sozialen Realitäten konfrontiert hat. Die medialen Bildstrategien hatte Georg Salner immer schon im malerisch-konzeptuellen «Griff», wie etwa die Tafelbildserie «TransCode Continuum_Series» aus 1999/2000, in der er «die Abgehobenheit einer bestimmten Art von heutiger hybrider Verpackungsästhetik bewusst mit den Anfängen der Tafelbildnerei in Verbindung setzt.», wie er selbst formuliert. Dass seine gesellschaftlich-soziale Aufmerksamkeit in den jüngeren Arbeiten stärker hervortritt, ist dabei nur ein scheinbarer Gegensatz zu früher. Bereits die Farbigkeit der «TransCode Continuum_Series» leitete er zum Beispiel aus seiner überbordenden Objektsammlung «E/O/S» ab, die unzählige weiterverarbeitete Industrial Design-Gegenstände – in seinen typischen Farben Rot, Gelb, Schwarz, Weiß und allen Nuancen dazwischen – enthält. Diese, in variablen Installationen nach Sammlungszeitpunkt geordnete und so mehrfach ausgestellte Sammlung, synchronisiert den Künstler mit der Welt der Alltagsobjekte und dient – wie seine Reisen, seine Photographien und seine Lektüren – der Anbindung seiner formalen Praxis an die Welt.
Wir kehren wir also zur «Lektüre» der Serie «geoXplicit» zurück und lassen danach in der Ausstellung «multiple identität» den Blick wieder über exemplarische, aber teils nie gezeigte Arbeiten aus fast zwei Jahrzehnten schweifen: Wie so oft führt der Blick auf neue Arbeiten dazu, dass man die aktuellen Elemente im zeitlich Zurückliegenden erkennt, und es lässt sich in der Rückschau oft erleben, wie zugleich das Frühere zu einem «Vorausecho» des Aktuellen wird. Plötzlich sieht man in den textilen Kreisen der «UNITS» (1994/95), in denen er seiner Liebe zu Grundgesetzen von Mathematik und Geometrie in purer Form Ausdruck verlieh, die poppigen Buchstaben voraus, die Salner zuletzt zum Beispiel für Gegenwartsslogans wie «Cradle to Cradle» verwendet, und es wird nachvollziehbar, wie der Künstler die strenge Komposition der jüngeren Ölmalereien in das offenere Aquarell übergeführt hat. Georg Salner hat viel erfahren, gesehen und gemacht. Er kann an dem Punkt, den er erreicht hat, gleichermaßen über vergangene Wege reflektieren, wie es ihm möglich ist, von dort aus neue Pfade aufzuspüren und zu begehen. Seine «multiplen Identitäten» sind ihm dabei gute Begleiter.
Martin Fritz ist Kurator, Berater und Publizist in Wien.
Seit 2016 Rektor der Merz Akademie, Stuttgart
www.martinfritz.net